Meine Sprache und ich

Im VR-Erlebnis «Meine Sprache und ich » kommt es zu einer aussergewöhnlichen Begegnung mit der Textwelt Ilse Aichingers. Ihre Sprache entzieht sich dem direkten, leserischen Zugriff, misstraut Konformismus und Komfort, stets auf der Suche nach der konkreten Sinnlichkeit des Wortes. Begriffe, Figuren und Narrative stehen egalitär zueinander ― Zusammenhänge, Definitionen und Emotionen treten nicht als mitreissende Kräfte auf. Das virtuelle Format verspricht das Gegenteil: Hyperzugänglichkeit, Immersion und Spektakel. Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums von Aichinger widmen sich Sarah Elena Müller und ihr transdisziplinäres Team dem Kontrast dieser Haltungen, werfen Fragen nach Lesart, Auslegung und Funktion literarischer und programmierter Welten auf. Der*die Besucher*in begegnet in einer dem gleichnamigen Text nachempfundenen, virtuellen Welt anderen Wesen und Strukturen. Manche sprechen, helfen oder warten, andere belauschen nur und deuten schweigend auf das eigentliche Interessensfeld digitaler Kultur ― den ungescripteten, offenen Ausgang menschlicher Interaktion.

Gezeigt in den Kontexten:

Das Projekt entwickelt sich seit 2019 fortlaufend weiter – zu einer Textsammlung aus Rechercheprotokollen und Annäherungen an den Basistext „Meine Sprache und ich“ kommt 2020 der ihm virtuell nachempfundene Raum. Später auch Auftragstexte von Autor*innen, die diesen Raum schon betreten haben und auf ihre Weise davon berichten. Dazu kommen die Notizen einer Spracherkennungs Software, welche alle Äusserungen im virtuellen Raum belauscht und selbstverständlich auch der Originaltext von Ilse Aichinger, von dem diese Erforschungen ausgehen. Die analoge Begleitpublikation „Meine Sprache ist undicht“ (Verlag Büro für Problem) begleitet die Installation seit 2021 und kann von den Besucher*innen mitgenommen werden.

Lilith Becker: Als ich die Fotographien von den Gesichtern einer Freundin und mir überlagert hatte, um ein drittes Gesicht zu erstellen zur Verwendung in gemeinsamen Ausweisdokumenten, wurde ich darauf hingewiesen, daß das gefährlich sein kann wenn nicht genügend Identitätsverankerung besteht. Wenn die Ich-Kräfte zu wackelig sind.

Sarah Elena Müller: Könnte der Avatar, erst mit mir eins, aus mir heraustreten und mich anschauen? Könnte er mich das fragen, was der vorherige Nutzer dieses Avatars ihn gefragt hat? Bist du Ich? Nein. Ich bin eine Sprache. Nicht deine. Aber eine. Die Sprache eines rechnenden Geräts und die Sprache eines rechnenden Gehirns. Warum sagst du nichts? Du schützt dich. Schützt deine Sprache. Willst sie nicht einspeisen? Bist du hungrig? Hörst du mich überhaupt? Ich mache den Test. Lasse eine Gabel auf einen Teller fallen. Wenn wir es beide hören, leben wir hier schon seit fünf Wochen. Mindestens. Wir haben etwas miteinander zu tun. 

Corsin Gaudenz: Eine Horde Schrifststellerinnen kommt daher und nimmt dich an der Hand. Sie sagen: Wir haben keine Lust mehr auf Sprache.  Die letzten zweitausend Jahre haben wir nichts Anderes gemacht, als dieses Instrument zu perfektionieren. Wir haben die Sprache zum laufen gebracht, wir haben sie gehegt und gepflegt. Wir haben Texte produziert, so wie andere Kinder. Text funktionert. Also rein in eine Welt, die nicht funktioniert. Wir stürmen die Räume und du merkst: Ich sehe nur die Fehler. Die Fehler sind augenfällig, sind überall umher. Umfassend immersiv, das grosse Versprechen, das grosse Erlebnis. Das Erlebnis geht kaputt. Puff. Komm herein durch die Tür, die nach draussen führt. Tritt ein. Ilse lässt dich aussen vor.

Sarah Elena Müller: Ich mag mich wundern über die Identifikation und die Ernsthaftigkeit, mit der ein Programmierer sich in seinem Medium bewegt. Die Angst vor Leere, die Lust auf Konstruktion. Alles ist echt. Ich denke an die Sprache. Dort habe ich Angst. Dort konstruiere ich. Dort lauert ständig die Gefahr, der eigenen Gefährlichkeit zu begegnen. Oder in einer dysfunktionalen Matrix verloren zu gehen. Sollte also diese Bedenken nicht belächeln. Wenn ich es Ernst meine.

© Bildnachweise: Timon Furrer, Robert Sievert, Benjamin Rudolf, Sarah Elena Müller, Lilith Becker, Simon Krebs

Konzeption und Leitung: Sarah Elena Müller

Künstlerische Umsetzung: Lilith Becker, Corsin Gaudenz

Programmierung VR: Benjamin Rudolf NAU HAU Immersion Labs

3D Design & Animation: Wunna Winter

Audiodesign: Markus Mezenen

Produktion: Barbara Schmid

Stimmen: Daniela Ruocco, Ellen Lapper

Übersetzung Englisch: Ellen Lapper

Performance: Sarah Elena Müller, Lilith Becker, Clara Palau y Herrero, Milena Keller, Johannes Werner, Corsin Gaudenz, Barbara Schmid

Video: Fabian Hirter

Texte: Ilse Aichinger, Annette Hug, Eva Seck, Biswamit Dwibedy, Birgit Kempker, Anja Schulthess, Sarah Elena Müller, Lilith Becker, Corsin Gaudenz, Google Cloud Speech-to-Text API

Publikation: Verlag Büro für Problem

 

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