Die Eltern des Mädchens misstrauen dem Fernsehen, aber beim medienaffinen Nachbarn Ege darf es so lange schauen, wie es will. Eges Wohnung steht voller Geräte, und er dreht Videos, die nie jemand sehen will. Die Eltern sind überfordert mit dem Kind, das sein Bett nässt und kaum spricht. Der Vater ist Biologe und wendet sich lieber bedrohten Tierarten zu. Die Mutter bildhauert und ist mit ihrer Kunst beschäftigt. Ein Heiler soll helfen. Das Mädchen sucht Zuflucht bei einem Engel, den es auf einer Videokassette von Ege entdeckt hat. Und wirklich, der Engel hält zu ihm. Durch dieses Kabinett der Hilf- und Sprachlosigkeit nähert sich Sarah Elena Müller dem Trauma einer Familie, die weder den Engel noch die Gefährdung zu sehen imstande ist. Und von der Grossmutter bis zum Kind entsteht ein Panorama weiblicher Biografien seit dem grossen Aufbruch der Sechzigerjahre.
Im Spannungsfeld naturwissenschaftlicher Dogmen, konträrer Kunstauffassungen und neuer Erziehungsmethoden erliegen die Generationen dem Unvermögen, sich über das Unsagbare zu verständigen. Analog zur inneren Suche nach Erinnerung an die Missbrauchserfahrung erodieren die Speichermedien der 90er, DV Kassetten, Videorekorder, Magnetbänder. Die darauf festgehaltenen Bilder verblassen, werden überschrieben, geben nur einen Auschnitt des Geschehens wieder oder sind unwiederbringlich verloren. Übrig bleiben zur Rekonstruktion: Erinnerungsfetzen, wiederkehrende Verhaltensmuster, Behandlungsmethoden, Rachefantasien, Symbolik, Flucht- und Bezeichnungsversuche.
erschienen am: 1.2.23 im Limmat Verlag
„Bild ohne Mädchen“ wurde mit dem Literaturpreis des Kantons Bern & dem Förderpreis des Kantons St.Gallen ausgezeichnet. Der Roman war nominiert für den Schweizer Buchpreis und ist auf der Shortlist für den Rauriser Literaturpreis.
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Umschlagmotiv: Giacomo Santiago Rogado
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